Sind Bürgerräte noch zeitgemäß?

Die Berliner Umweltsenatorin Bettina Jarasch rief dieser Tage die Berliner dazu auf, sich am 1. Berliner Klimabürger:innenrat zu beteiligen. 2.800 zufällig ausgewählte Berlinerinnen und Berliner wurden zu dem Event eingeladen. Aus den Rückmeldungen werden 100 Personen ausgewählt, die nach Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Wohnbezirk und Migrationserfahrung die Bevölkerung der Hauptstadt am besten repräsentieren. Zwischen April und Juni 2022 soll der Rat dann insgesamt neunmal tagen. Die Themen, die zur Diskussion stehen, sind Verkehr, Gebäude & Wärme und Energie. In der ersten Sitzung erhalten die Teilnehmenden eine inhaltliche Einführung durch wissenschaftliche Expert:innen. Und die Experten stehen den Bürgerinnen und Bürgern auch weiterhin zur Seite, um Fakten zu checken, um Alltagsszenarien zu erarbeiten oder um Folgen von bestimmten Empfehlungen aus dem Bürgerrat sichtbar zu machen. So weit, so gut geplant.

Und was sich schon jetzt sagen lässt, die Veranstaltung wird den Teilnehmern unglaublich viel Spaß machen, sie werden viel dazulernen, sie werden es genießen, im Rampenlicht zu stehen und sie werden große Hoffnungen hinsichtlich der Wirkungen ihrer Vorschläge aufbauen.

Doch wenn man sich die Erfahrungen mit Bürgerräten, Bürgerkonferenzen oder wie man sie auch nennen möchte anschaut, muss man sich schon fragen, ob diese Form von Bürgerbeteiligung noch zeitgemäß ist. Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe solcher Veranstaltungen organisiert, moderiert und evaluiert. Es ging um Gentechnik, Nanotechnologie, Wasserstoffmobilität oder im letzten Jahr um das autonome Fahren. Neben neuen Technologie ging es auch um die strategische Ausrichtung der Hauptstadt in der BerlinStrategie 2030. All diese Veranstaltungen zeigten, dass Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich in der Lage sind, sich Expertise anzueignen und sich eine qualifizierte Meinung zu einem bestimmten Thema zu bilden. Die Einschätzung der Bürgerinnen und Bürger wich dabei durchaus in Punkten von der Meinung von Expertengremien ab, so dass neue Perspektiven in die Debatte eingebracht wurden. Die Veranstaltungen zeigten aber auch, dass die Gutachten der Bürgerinnen und Bürger nach einer feierlichen Präsentation in der Öffentlichkeit recht schnell in irgendwelchen Schubladen verschwanden.

Und das wird auch beim 1. Berliner Klimabürger:innenrat passieren. Denn die Resultate waren von Anfang an nicht als bindend für die Berliner Politik und Verwaltung geplant. Schon auf der Website ist zu lesen: “Bei ihren Entscheidungen zur künftigen Klimapolitik Berlins werden Senat und Abgeordnetenhaus die Empfehlungen des Klimabürger:innenrats ernsthaft prüfen und angemessen berücksichtigen.” Viel Lärm um nichts also. Außer Spesen nichts gewesen.

Bei neuen Technologien mag es noch verständlich sein, wenn eine größere oder kleinere Bürgergruppe dafür genutzt wird, um mehr über die Alltagssicht von Bürgerinnen und Bürgern auf Wasserstoffautos oder autonom fahrende Fahrzeuge zu erfahren - quasi als Zwischen-Feedback aus der Bevölkerung. Wenn es aber um die zukünftige Gestaltung des eigenen Ortes geht, kann Bürgerbeteiligung deutlich mehr leisten. Die wichtige Kompetenz von Bürgerinnen und Bürgern liegt hier nämlich darin, verschiedene von Experten erarbeitete Optionen aus ihrer Alltagsperspektive heraus zu bewerten und so anstehenden politischen Entscheidungen die Richtung zu geben, die aus Bürgersicht gewünscht wird. Es geht gerade nicht darum, Bürger zu “kleinen Experten” zu machen, sondern sie als Akteure mit einer ganz spezifischen Funktion in politische Prozesse einzubinden. Bürgerinnen und Bürger agieren hier nämlich nicht als Begleitgruppe neben den wirklich wichtigen Entscheidungsprozessen in Politik und Verwaltung, sondern sind von Anfang an Teil eines von Politik und Verwaltung gewollten Prozesse, tatsächlich Veränderungen im eigenen Ort auf den Weg zu bringen.

Ein schönes Bespiel dafür bietet die Stadt Rostock. Als 2018 deutlich wurde, dass Rostock stärker wachsen wird, als einmal gedacht, war klar: Die Stadt braucht mehr Wohnraum. Dafür muss es wiederum genügend Bauflächen geben. Normalerweise kümmert sich das Stadtplanungsamt allein darum, zu planen und Gutachten einzuholen. Rostock mit seinem damals frisch gewählten Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen aus Dänemark ging einen anderen Weg und setzte auf das Wechselspiel zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft - der “Stadtdialog Zukunftsplan” war geboren. Nachdem die Politik bestätigt hatte, dass Rostock weiter wachsen will, erarbeitete die Verwaltung einen Plan, welcher Bedarf an Wohnraum künftig entstehen wird. Da bekanntlich mehrere Wege zum Ziel führen, wurden von der Stadtplanung drei unterschiedliche Szenarien entwickelt, wo der künftige Wohnraumbedarf gedeckt werden kann. Szenario A sah drei komplett neue Stadtteile vor, Szenario B einen neuen Stadtteil plus mehrere kleine Baugebiete und Szenario C viele kleine Baugebiete über die ganze Stadt verteilt. Die Menge des künftigen Wohnraumbedarfs blieb dabei natürlich fix. In mehreren Zukunftsworkshops hatten Bürgerinnen und Bürger dann Gelegenheit, sich mit diesen drei Grundszenarien auseinanderzusetzen oder auch neue zu entwickeln. Im Wechselspiel zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft entstand so die Grundlage für einen Flächennutzungsplan, der auch von der Bürgerschaft mitgetragen wurde.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass Bürgerbeteiligung eine ganz neue Bedeutung gewinnen kann. Wenn die Stadtpolitik die grundsätzliche Zielrichtung festgelegt hat (in Rostock: Wir wollen wachsen!), wird die Verwaltung gebeten, Wege auszuarbeiten, wie das Ziel erreicht werden kann (in Rostock: Wo können wir wachsen?) und die Bürgerschaft hat dann die Möglichkeit, den von ihr favorisierten Weg zu bestimmen (in Rostock: Wo wollen wir wachsen?). Wenn es hier unterschiedliche Präferenzen gibt kann man die Bürgerinnen und Bürger eines Ortes abstimmen lassen, welches Szenario mehrheitlich gewollt ist. Damit steht dann auch nicht mehr die Frage im Mittelpunkt, ob ein Wohngebiet gewünscht ist, sondern welche Bebauungsvariante gewünscht ist.

So fruchtbar dieses Modell der Bürgerbeteiligung in der Praxis auch ist, es erfordert immer von Politik und Verwaltung, die Bürgerschaft auch einbeziehen zu wollen und mit den Ergebnissen, die aus Beteiligungsprozessen entstehen, auch zu leben und diese umzusetzen.

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