Bürgerrat, den niemand braucht?

Bürgerrat - Demokratie par excellence

Plötzlich sind Bürgerräte wieder in aller Munde. Der Bundestag feiert sich aktuell dafür, einen Bürgerrat zum Thema “Ernährung im Wandel” in die Welt gesetzt zu haben. Ab September 2023 sollen sich 160 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger mit dem Thema Ernährung beschäftigen und im Februar 2024 einen Bericht mit ihrer Meinung zu diesem Thema an den Bundestag übergeben. Denn genau darum geht es, in einem Bürgerrat soll Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zu qualifizierter Meinungsbildung gegeben werden, die am Ende von Ihnen in einem Votum niedergeschrieben wird.

Wen man auch fragt, alle loben das Format Bürgerrat. Und tatsächlich: Die eingeladenen Bürgerinnen und Bürger diskutieren das Thema auf der Sachebene, Moderatorinnen und Moderatoren führen neutral durch die Veranstaltung und Expertinnen und Experten verschiedener Auffassungen versorgen die Teilnehmer mit verständlich formulierten Informationen. Das ist Demokratie par excellence.

Bürgerrat - nur ein großes Happening?

Durch die Bank weg erleben die Bürgerinnen und Bürger den Bürgerrat als große Bereicherung, das kann ich aus eigener Erfahrung mit dieser Methode bestätigen. Bürgerinnen und Bürger kommen mit Menschen zusammen, die sie sonst nie kennengelernt hätten. Sie können bei Themen mitreden, zu denen sie vorher nicht einmal eine Meinung hatten. Sie stehen für einen Augenblick im Mittelpunkt der bundesdeutschen Aufmerksamkeit.

Am Ende wird viel gelobt, welch qualifiziertes Votum die Bürgerinnen und Bürger doch abgegeben haben. Am Ende wird viel versprochen, in welche Gremien die Politiker das Votum einbringen wollen. Und ganz am Ende passiert eigentlich ganz wenig, weil das Votum der Bürgerinnen und Bürger dann eben doch zu unkonkret war, als dass man es in eine Ausschusssitzung hätte einbringen können. Oder weil es Passagen enthielt, die man als Fraktion dann doch nicht mittragen wollte. Und wenn man sich anschaut, dass die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag bereits jetzt grundsätzliche Zweifel hat, ob der Bürgerrat zur Ernährung ein sinnvolles Instrument ist, ist das beschriebene Ende bereits vorprogrammiert.

Bürgerräten für heikle Themen …

Doch kommen wir noch einmal zurück zum Anfang, zum Grund warum ein Bürgerrat eingesetzt werden soll. Erfunden wurden die Bürgerräte für die Stadtplanung. Damals hießen sie noch Planungszelle. Im Mittelpunkt standen und stehen Fragen wie “Was braucht Geislingen, damit Menschen hierher ziehen?”, “Wie soll der Stadtwald von Biesenthal zukünftig genutzt und geschützt werden?” oder “Wie und wo lässt sich die friedliche Revolution in der DDR 1989 mit einem Denkmal in Leipzig darstellen?”. Viele weitere Beispiele für lokale Bürgerräte finden sich hier.

Natürlich ist das Format Bürgerrat nicht auf lokale Prozesse beschränkt. Auch auf größerer politischer Bühne können Bürgerräte wichtig sein, wie Beispiele aus Irland zeigen, wo Bürgerräte zur gleichgeschlechtlichen Ehe und zur Aufhebung des Abtreibungsverbots abgehalten wurden. Aber immer ging es in Bürgerräten um etwas, was die Politik nicht entscheiden konnte oder wollte und zu dem sie um den Rat der Bürgerschaft bat. Die taz titelte sogar “Ein Gremium für heikle Themen”.

… oder nur Demokratiewiese zum Grasen

Doch wo steckt das Heikle in den bisherigen bundesdeutschen Bürgerräten zu den Themen “Demokratie” oder “Deutschlands Rolle in der Welt”? Oder jetzt beim Bürgerrat “Ernährung im Wandel”? Welche strittigen Fragen sollten hier geklärt werden? Geht es um eine Demokratiewiese, auf der Bürgerinnen und Bürger mal für einige Wochen oder Monate grasen dürfen, oder geht es wirklich um ein brisantes Thema, zu dem es sehr unterschiedliche Meinungen gibt und die der Bundestag nicht einfach entscheiden kann oder nicht will.

Wenn man die Methode Bürgerrat ernst nähme, würde man sie tatsächlich für hoch umstrittene Themen nehmen. Wie wäre es mit dem Thema “Sollte sich die Bundesregierung mehr für Frieden in der Ukraine einsetzen oder weiter Waffen in das Land liefern?”. Oder: “Brauchen wir eine andere Flüchtlingspolitik?” Immerhin haben hier Entscheidungen auf der Bundesebene ganz konkrete Auswirkungen für Kommunen. Da wäre es doch mal interessant, wie Bürgerinnen und Bürger mit diesem Thema umgehen würden. Selbst die Frage: “Führen die Klima-Klebeaktionen der Letzten Generation zu mehr Klimaschutz oder zu mehr Klimafrust?” ließe sich hervorragend in einem Bürgerrat diskutieren. Bei diesen Themen würde es dann wahrscheinlich viel heißer hergehen als bei dem Thema “Ernährung im Wandel”.

Zurück
Zurück

Wenn durch gute Planung Verlierer-Regionen entstehen

Weiter
Weiter

Wenn Akzeptanzforschung falsch übersetzt wird