Sind Bürgerräte das Mittel der Wahl?

Bürgerräte sind aktuell die Methode, wenn Politiker sich mit Bürgernähe oder direkter Demokratie schmücken wollen. Die Grünen haben Bürgerräte Ende 2020 in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen und selbst Wolfgang Schäuble macht sich dafür stark. Zeit, sich näher mit dieser neuen Methode und ihren Möglichkeiten zu beschäftigen.

Und da wären wir schon beim ersten Irrtum, denn neu ist die Methode eigentlich nicht. Im österreichischen Vorarlberg werden Bürgerräte schon seit 2006 angewandt und sind dort sogar in die Landesverfassung aufgenommen worden. Mittlerweile wurden Bürgerräte auch in Frankreich, Irland oder in Deutschland durchgeführt. Im Kern geht es immer darum, dass zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger für zwei Tage zusammenkommen, um bestimmte gesellschaftspolitische Themen zu diskutieren, Herausforderungen in diesem Zusammenhang aufzuzeigen und Lösungen zu erarbeiten. Das Themenspektrum reicht dabei von lokal (z.B. Soll unsere Gemeinde weiter wachsen?), über regional (z.B. Soll der Landkreis Windräder aufstellen, um seine Klimaziele zu verwirklichen?) bis zu nationalen Themen (z.B. Welche Rolle soll Deutschland in der Welt spielen?). Ziel der Bürgergruppen ist es, am Ende eine Empfehlung zu der diskutierten Frage abzugeben, mit der sich dann die Stadtverordnetenversammlung, der Kreistag oder die Regierung auseinandersetzen muss.

Die Vorteile der Methode

Bürgerräte haben verschiedene Vorteile:

  • sie können frei von Eigen- und Parteiinteressen Sachfragen erörtern und so gesellschaftliche Konflikte entschärfen

  • sie wecken Begeisterung unter den Teilnehmern, weil sie das Gefühl vermitteln, dass endlich auch Bürgerinnen und Bürger etwas zu sagen haben

  • sie bringen unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Einstellungen an einen Tisch, die in einem moderierten Verfahren lernen, wieder miteinander zu sprechen, der Gegenseite zuzuhören, Argumente auszutauschen

  • sie geben Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, Politik aktiv zu gestalten und selbst Verantwortung zu übernehmen

  • sie können mit ihren Empfehlungen Politikern Rückenwind für schwierige Entscheidungen geben

Kritik der Methode

Doch es gibt auch kritische Stimmen, die die Bedeutung von Bürgerräten in Frage stellen:

  • So erscheint es zweifelhaft, dass eine geringe Anzahl von Bürgern wirklich einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden kann.

  • Andere fragen sich, warum der Meinung eines Bürgerrats mehr Gewicht zukommen sollte, als der der Wähler, die Parlamentarier in den Gemeinderat, Kreis-, Land- oder Bundestag berufen haben.

  • Kritisiert wird auch, dass es eigentlich kein Erkenntnisproblem gibt, da Abgeordnete in ihren Wahlkreisen gut vernetzt sind und genau wissen, was ihre Wähler denken und fordern.

  • Da die Empfehlungen von Bürgerräten nur beratenden Charakter haben, wird befürchtet, dass die Politikverdrossenheit sogar zunehmen könnte, wenn die Bürgerinnen und Bürger merken, dass ihre Empfehlungen nicht umgesetzt werden.

Bürgerräte sind ein Mehrwert in der Praxis

Die Praxis gibt der Methode erst einmal Recht. Sie funktioniert. So äußerte sich Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg: „Wir haben zuletzt in Stuttgart über die Sanierung der Staatsoper beraten, das hat allen Beteiligten für die Planung wichtige Erkenntnisse gebracht. Wir haben ein Bürgerforum zu den Abgeordnetendiäten durchgeführt. Und in der Pandemie haben wir in einem ‚Bürgerforum Corona‘ unter anderem über den Wert der offenen Grenzen zu unseren Nachbarn in der Schweiz und in Frankreich beraten.“

In all den von Frau Erler genannten Fällen ging es um Perspektiven der Bürgerschaft auf Projekte und Entscheidungen, von denen niemand persönlich betroffen ist oder konkrete Vor- oder Nachteile hinnehmen muss. Wie ist der Blick der Bürgerinnen und Bürger auf Planungen, auf Diäten oder auf die Rolle Deutschlands in der Welt? Durch den Einbezug von Bürgerinnen und Bürgern gelangen ganz neue Perspektiven in den Politikprozess, Probleme können frühzeitig erkannt und berücksichtigt werden. Außerdem nehmen durch die Zufallsauswahl ganz andere Menschen an einem Bürgerrat teil, als die „üblichen Verdächtigen“, die sich bei allgemeinen Aufrufen immer beteiligen.

Bürgerräte in Konflikten um neue Bauprojekte

Aber wie gut ist die Methode in Auseinandersetzungen um neue Bauprojekte? Auch hier ist erst einmal richtig, dass Bürgerräte dem Kreistag, der Stadtverordnetenversammlung oder dem Gemeinderat die Möglichkeit geben, auch die „Leisen“ in der Bevölkerung zu hören und sich nicht nur an den „Lauten“ zu orientieren zu müssen.

Doch die „Lauten“ sind vor allem deshalb laut, weil sie sich in irgendeiner Weise von einem Bauvorhaben betroffen fühlen. Und mit dieser Betroffenheit, diesem Protest muss umgegangen werden. Oder wie Jörg Sommer es kürzlich in seinem Blog auf den Punkt brachte: „Es ist nicht Aufgabe von Beteiligung, Frust zu vermeiden, sondern Frust zu thematisieren und daraus einen Diskurs zu entwickeln. Je früher, desto besser. Je später, desto nötiger.“

Bürgerräte sollen aber gerade diese Betroffenheit ausblenden, sollen sich aus einer unaufgeregten Position von Sachargumenten leiten lassen. Und das kann bisweilen zu irritierenden Ergebnissen führen, wie das Beispiel eines Bürgerrats im Landkreis Ebersberg zeigt.

Der Landkreis möchte gern bis 2030 klimaneutral werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen auch Windräder gebaut werden – die ersten fünf im Ebersberger Forst. Und um die Bürger mitzunehmen, wurde ein Bürgerrat „Aktive Bürgerexpert*innen für Klimawandel und Energiewende im Landkreis Ebersberg“ installiert. Neun Bürgerinnen und Bürger bekamen den Auftrag, aus Bürgersicht zu überlegen, wo im Landkreis Windräder aufgestellt werden könnten.

Doch während der Bürgerrat sich informierte, diskutierte und Empfehlungen verfasste, entwickelte sich außerhalb dieses Gremiums eine ganz andere Form von Bürgerbeteiligung. Bürger, die Windräder in „ihrem“ Forst ablehnten, fanden sich zusammen, gründeten eine Bürgerinitiative und machten in der Öffentlichkeit mobil. Sie befürchten, dass durch die Windräder der Ebersberger Forst zerstört wird und die Erholungsfunktion für die Anwohner nicht mehr gegeben ist. Und sie befürchten, dass wenn der Damm erst gebrochen ist, überall im Landkreis Windräder gebaut werden.

Genau in diese brenzlige Situation platzte nun der Bürgerrat mit seiner Empfehlung, dass es am gerechtesten wäre, wenn in jeder der 21 Kommunen des Landkreises jeweils ein Windrad gebaut werden würde. Mehr Öl konnte man gar nicht ins Feuer gießen.

Dabei hatte der Bürgerrat natürlich nichts falsch gemacht. Er hatte gezeigt, was Nicht-Betroffene empfehlen würden. Aber die Debatte hatte sich weiterentwickelt und es gab ganz klare Betroffenheiten und noch klarere Befürchtungen. Die Methode, so wie sie gedacht war, passte nicht mehr zur Brisanz der Debatte. Denn jetzt wäre es wichtig gewesen, die Betroffenheiten genauer in den Blick zu nehmen und möglichst in jeder Gemeinde einen Bürgerrat einzusetzen, um die Debatte noch einzufangen.

Das Beispiel zeigt, dass Bürgerräte trotz ihrer Vorteile, nicht für jede Situation sinnvoll sind und Konflikte sogar verschärfen können. Doch der Hype, der aktuell um diese Methode gemacht wird, lässt befürchten, dass sie künftig unreflektiert in passenden wie unpassenden Situationen eingesetzt wird. Lassen wir sie deshalb wieder dorthin legen, wo sie hingehört: in den prall gefüllten Werkzeugkasten guter Bürgerbeteiligung, aus dem strategisch angelegte Kommunikation die jeweils zur Situation passende Methode auswählt. Wichtiger als die Methode des Bürgerrats sind deshalb auch in Zukunft gute Moderatorinnen und Moderatoren, die mit dem Werkzeugkasten umgehen können.

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Wenn Stakeholderanalysen bereits verändern